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Ein Dorfspaziergang:
Heimarbeit prägte Grundrisskonzepte

Dorfspaziergang durch Seltisberg, Kanton Baselland – Schweiz, Samstagnachmittag.

Ein siedlungsgeschichtlicher Aufsatz.

Seidenband aus Baselbieter Produktion. Abbildung Archäologie und Museum BL.

Seidenband (Sammlung Museum BL)

Wohnen war sekundär

Ein Webstuhl zur Bandherstellung wog rund 1.5t und war um die 2.5m hoch. Flächenmässig beanspruchte er imMinimum 3m auf 4m. Der oft einzige Wohnraum, die Stube, war somit verstellt mit der so genannten «Bändelmühle»,einem Kachelofen mit Kunst und einem Bett, in dem abwechslungsweise geruht wurde (man beachte den stundenlangen Lärm des daneben stehenden Webstuhls!). Zum «Sein» war neben dem Küchen- oder Esstisch kein Platz.Die steigenden Bevölkerungszahlen im 19. Jahrhundert verlangten nach Ausbau der Dachräume mit Kammern oderdurch die Anhebung der Dachhaut (Erhöhung der Fassade durch Dachfusswände). Seltener entstanden auch Kammernauf den Heubühnen oder durch den Ausbau der Lauben.

Posamenterstube in den 1940er Jahren. Foto Historisches Lexikon Schweiz.

Posamenterstuben in den 1940er Jahren (© Staatsarchiv BL und Historisches Lexikon Schweiz).

Posamenterstube in den 1940er Jahren. Foto Staatsarchiv BL.

Das Produzentenhaus (Posamenterhaus)

In Seltisberg fielen in den 1850er Jahren auf die 434 Einwohner 96 Bandstühle – sprich pro 4.5 Einwohner ein Webstuhl. Seltisberg gehörte somit zu den Dörfern mit einer eher höheren Webstuhldichte. Ab Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich ein fortlaufender Rückgang der Nachfrage nach Seidenbändern ab. Gründe waren unter anderem Zölle und die sich ändernde Mode. Im Dorf liefen 1880 noch 80 Stühle. Der Erste Weltkrieg leitete dann den endgültigen Niedergang der Heimarbeit in der Seidenbandherstellung ein.

 

Allgemein brachte die Heimweberei der Basler Landbevölkerung im 19. Jahrhundert einen erkennbaren wirtschaftlichen Aufschwung. Kapital wurde generiert, das sich im Baubestand heute noch abzeichnet. Die Aufhebung des Flurzwanges im Laufe des 19. Jahrhunderts ermöglichte es zudem ausserhalb des historischen Dorfetters zu bauen. Die Neubauten dieser Dorferweiterungen besitzen eine spätbarocke Gestaltungssprache, die sich in erster Linie an der Form des Tenntores ablesen lässt.

Typisches Posamenterhaus im Baselbiet. Die Stube als Produktionsort der Heimarbeit ist gegen die Sonne und nicht gegen die Strasse ausgerichtet. Foto google streetview.
Typisches Posamenterhaus im Baselbiet. Die Stube als Produktionsort der Heimarbeit ist gegen die Sonne und nicht gegen die Strasse ausgerichtet.  Foto Staatsarchiv BL.

Seltisberg - Hauptstrasse. Zwei typische Heimarbeiterhäuser mit Bauernbetrieben, jeweils mit Orientierung der Hauptfassade von der Strasse abgewandt nach Süden (© google und StA BL).

Typische Posamenterhäuser im Baselbiet. Die Stuben als Produktionsstätten der Heimarbeit sind unabhängig der Strassenführung gegen die Sonne/nach Süden ausgerichtet. Foto google streetview.
Typische Posamenterhäuser im Baselbiet. Hier sind die Stuben als Produktionsstätten zur Strasse hin orientiert, da diese im Süden der Gebäude verläuft.  Foto Staatsarchiv BL.

Seltisberg - Hauptstrasse. Der Wohnteil des an der Südseite der Strasse liegenden Hauses weist auf der Vorderseite nur eine Türe auf. Das giebelständige Wohnhaus gegenüber an der Nordseite der Strasse (rechts im Bild) besitzt die Wohnräume ebenfalls nach Süden hin. Historische Fotografie mit Bebauung der Nordseite (© StA BL): die Wohnräumesind zur Strasse hin nach Süden orientiert.

Die «verdrehten» Orientierungen und Fassadengewichtungen sind die baukulturellen Charaktermerkmale der Heimarbeit schlechthin und bezeugen die Wichtigkeit der Seidenbandherstellung für dieses Dorf. Die Gebäudekonzepte sind somit einmalige Zeugen der lokalen protoindustriellen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Anders sieht es beispielsweise im stadtnahen Reb- und Ackerbauerndorf Muttenz aus, in dem die Gebäudeausrichtung nach Gelände und Bachlauf erfolgte, meist traufständig. Die Stuben wurden dort konsequent zur Strasse hin ausgerichtet, die Küchen mit Laubenanbauten nach hinten. Die Ausrichtung der Räume nach Sonnenstand spielte keine Rolle.

Ausschnitt aus dem Brandversicherungsbuch: 1901 wurde an den Kernbau ein Posamentersaal angebaut, um die Heimarbeit auszubauen. Brandlagerakten im Staatsarchiv BL.

Expansion der Arbeitsfläche in eigenen Anbau (Brandlagerakten Staatsarchiv BL)

Entkoppelung von der Natur 

Die Entwicklung der Heimposamenterei verlief im Basler Untertanengebiet rasant. Lebten um 1700 5% der Bevölkerung von der Seidenbandherstellung, waren es 50 Jahre später bereits 20% und Ende 18. Jahrhundert über 30% (inklusive Bevölkerungsanstieg!).  Um 1900 waren in der Region Nordwestschweiz noch über 30'000 Heimarbeiter beschäftigt.

 

Eine Abhängigkeit (Klima, Basler Obrigkeit) löste die nächste ab (Wirtschaftssystem, Weltwirtschaftsmarkt). So war der Lebensunterhalt der Kleinbauern nicht mehr nur von der klimabedingten Landwirtschaft abhängig, sondern zunehmend von überregionalen Märkten und dem Weltgeschehen (Kriege mit Handelsembargos, Wirtschaftskrisen etc.).

 

Bezahlt wurde nach Stückzahl. Neben der Menge waren die Lieferzeiten wichtig. Mit der Einführung von elektrischen Webstühlen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts waren täglich 18 Arbeitsstunden möglich. Lebens- und Tagesrythmen wurden zunehmend losgekoppelt vom Jahreslauf.

 

Trotz Elektrifizierung der meisten Webstühle – möglich durch die Gründung örtlicher Elektrogenossenschaften – siegte schliesslich im Wettbewerb mit der Fabrikweberei letztere. Die Seidenbandherren übergaben ihre Aufträge zuerst den eigenen, teuer erbauten Fabriken, bevor die billigen Lohnarbeiter auf dem Land mit Arbeit bedient wurden. Zeitgleich fand die Basler Chemische Industrie ihren Anfang in der Produktion von künstlichen Farbstoffen für die Seidenbänder.

Transformatorenhäuschen in Ziefen, Foto Simon Heiniger -  Architektur Basel.
Transformatorenhäuschen in Hölstein, Foto Simon Heiniger - Architektur Basel.
Transormatorenhäuschen in Münchenstein. Foto Simon Heiniger - Architektur Basel.

Die in den Baselbieter Dörfern noch anzutreffenden Transformatorenhäuschen zeugen von der damals eingeführten Elektrifizierung und somit indirekt von der einst blühenden Seidenbandweberei. In ihrer Vielfalt sind sie ein eigener Bautyp des frühen 20. Jahrhunderts, hier Ziefen, Hölstein, Münchenstein (© Simon Heiniger, Architektur Basel).

Schlussgedanken

Die Seidenbandproduktion hat seit dem 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert neben der Wirtschafts- und Sozialgeschichte die Baukultur vieler Baselbieter Dörfer geprägt. Zumindest in Seltisberg konnte ich die vollends auf die Heimarbeit zurückzuführende eindrückliche Beobachtung der «Grundrissverdrehung und des Fassadentausches» machen. In den anderen Posamenterdörfern besteht noch Forschungsbedarf.

Gerade für den heute durch den Baudruck (1. Etappe neues eidgenössisches Raumplanungsgesetzt von 2014) immer wichtiger werdenden Ortsbildschutz ist es äusserst relevant und zwingend, den Hintergrund mit der Entstehungsgeschichte von Häuserzeilen und Strassenzügen zu erkennen und zu kennen. Neben den individuellen Hausbiografien macht das Konzept des Dorfes – «DAS Konzept Dorf» – den Charakter und den Geist des Ortes aus. Dieser geht durch Unwissenheit von Eigentümern, Dorfbewohnern, Architekten, Behörden und Reglementen heute leider immer noch zu oft  schleichend und unbemerkt verloren. Nur ein paar wenige Menschen wundern sich….

 

«Gelebten Raum verstehenund weitergestalten» - So lautet mein Slogan auf meinen Visitenkärtchen. Lebensräume umgeben uns immerwährend. Wie wundervoll wäre es, ihre Schönheit und ihr Potential bewusst wahrnehmen, verstehen und achtsam gestalten zu können. Unversehrte Kulturlandschaften, historische Siedlungskerne und Ensembles, Einzelbauten und archäologische Stätten sind sichtbare materielle und geistige Erinnerungsträger vergangener Lebensweisen. Sie sind nicht reproduzierbar, gehören aber zu den durch die rasante Entwicklung gefährdeten Ressourcen, die Lebensqualität und Raum-Identifikation garantieren.

 

Also Leute, interessiert Euch für Eure Wohnhäuser und die Siedlungsgeschichte! So könnt Ihr Euch beim nächsten Umbau, Neubau oder Abbruch bewusst entscheiden und wisst, welchen (Gestaltungs-) Beitrag Ihr an Euren Ort des Wohnens leistet.

 

Es grüsst Euch herzlich - Anita auf Kurs!

Quellenangaben

- https://geschichte.bl.ch/wirtschaft/zeitalter-der-seidenbandweberei.html mit weiteren Quellenangaben.

 

- Gysin-Scholer, Christa: "Seltisberg", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 22.11.2011. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/001215/2011-11-22/ (konsultiert am 24.07.2021).

 

- http://webstuhlrattern.ch/mechanik-der-bandwebstuehle/

«Die willkürliche Reduktion der für unser Selbstverständnis wichtigen Geschichtszeugen auf das oft nur nachmodisch-subjektiven Kriterien Schöne fügt dem Reichtum einer in Jahrtausenden gewachsenen menschlichen Umwelt Jahr für Jahr die ärgsten Verluste zu.»

(Prof. em Dr. Georg Mörsch, in: Die Wirklichkeit der Denkmäler)

Seltisberg ist ein kleines Baselbieter Dorf und liegt auf einem Hochplateau des Tafeljuras. Die Einwohner lebten bis ins 19. Jahrhundert vorwiegend von der Landwirtschaft – damals noch durch den Flurzwang mit der Dreifelderwirtschaftstark reglementiert. Ab Ende des 18. Jahrhunderts fand jedoch in diesem Dorf wie im Rest des oberen, in den Hügeln des Juras gelegenen Untertanengebiets der Stadt Basel die Seidenbandweberei («Posamenterei») Einzug. 1770 sind in Seltisberg 14 Bandstühle verzeichnet.

 

Die Herstellung von Seidenbändern war für viele Kleinbauern ein willkommener zusätzlicher Verdienstzweig. Übergeordnet war das Ganze als Verlagssystem organisiert, in dem der Produktionsablauf von der städtischenOberschicht gesteuert und überwacht wurde. Die Heimarbeiter erhielten Seide als Rohstoff oder Zwischenprodukt und veredelten diese gegen Stücklohn. Das Endprodukt wurde mit viel Absatz in die ganze Welt exportiert. Die prunken Herrenhäuser der damaligen Basler Seidenherren spiegeln heute noch den damaligen Geldfluss.

 

Eine Begleiterscheinung der sich in den Bauerndörfern allmählich wandelnden Wirtschaftsform sind die sich entsprechend an den Wandel anpassenden Gebäudekonzepte. Bereits bestehende Bauernhäuser wurden baulich angepasst (u.a. Vergrösserung der Fenster). Barocke Neubauten optimierten ihre Orientierung auf dem Bauplatz und die Ausrichtung der Räume im Sinne der Produktionsunterstützung. Licht war das Wichtigste!

 

Von Basel aus wurden die Bänder weltweit vertrieben, um in der Damenmode oder in der Innenarchitektur (Lampenschirme, Vorhangdekoration, Dekoration von Polstermöbeln etc.) Verwendung zu finden.

Für Seltisberg ist zudem feststellbar, dass die Wohnteile der nun entstehenden Gebäude – diese immer mit integriertem Bauernbetrieb – spezifisch für die Seidenbandproduktion konzipiert und erbaut wurden. Dafür sprechen die Raumhöhen von über 2.5m sowie die Ausrichtung der Produktionsräume mit den Posamenterstühlen – der Stuben – Richtung Süden. So zeigt sich in Seltisberg konkret bei allen spätbarocken Gebäuden, die an den Südseiten der Strassen liegen (v.a. Hauptstrasse und Im Winkel), die Ausrichtung der Stuben zum Licht.

 

Neben der «Verdrehung» des Grundrisskonzeptes sind entsprechend auch die Fassaden anders gewichtet. Bei der regional typischen Traufständigkeit ist ergo nun die von der Strasse abgewandte Fassade die Schauseite des Gebäudes und besitzt eine gebührende Gestaltung. Zur Strasse hin sind zur Erschliessung der gestelzten Wohngeschosse oder der oberen Wohnungen Lauben vorgebaut. Die Befensterungen sind spärlich (lediglich Belichtung der Küche), die Fassadengestaltungen kleingliedrig und unruhiger. Die Nutzung der Innenräume bestätigt sich zudem an den meist grosszügig durchfensterten Giebelmauern der Wohnachsen, auch hier mit grossformatigen Öffnungen im rückwärtigen Grundrissbereich.

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